„Kunst muss (…) zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit sie gehen darf“, sagte Heinrich Böll vor fast 60 Jahren in seiner „Wuppertaler Rede“ zur Freiheit der Kunst. So zitiert ihn Stefanie Jaschke-Lohse, Programmleiterin Kunst & Kultur bei der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS, an diesem Abend im Moot Court der Bucerius Law School. Im Rahmen unserer Veranstaltungsreihe „Hinter den Bildern. Gespräche zu Kunst, Recht und Gesellschaft“, organisiert mit dem Studium generale der Bucerius Law School, ist hier ein Expert:innen-Panel zusammengekommen, um über aktuelle Debatten rund um Kunstfreiheit in einer zunehmend polarisierten Gesellschaft zu diskutieren: Auf der Bühne sitzen die israelische Künstlerin Yael Bartana, die dieses Jahr den Deutschen Pavillon auf der Kunstbiennale in Venedig gestaltet, Tim Wihl, Professor für Öffentliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte an der Universität Erfurt, und Carsten Brosda, Senator für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg. Moderiert wird das Gespräch von Kulturjournalist Ralf Schlüter.
Debatten um antisemitische Kunstwerke auf der Documenta 2022, Genozid-Vorwürfe gegen Israel bei der Preisverleihung der Berlinale in diesem Jahr – unter anderem zeigten Beispiele wie diese, worum es auch heute Abend gehe, sagt Professor Dr. Michael Grünberger, Präsident der Bucerius Law School, in seiner Begrüßung. Doch was genau passieren muss, wenn ein solcher Fall eintritt, darüber wird derzeit beherzt und mitunter bitterlich gestritten, ergänzt Stefanie Jaschke-Lohse.
„Kunst sollte komplex sein“
Über genau diese Fragen und Aushandlungen diskutiert auch das Panel auf der Bühne: Yael Bartana plädiert zu Beginn des Gesprächs für einen künstlerischen Ansatz, der Raum für Mehrdeutigkeit und Reflexion schafft. „Als Künstlerin bin ich gegen Schwarz-Weiß-Denken. Kunst ist komplex. Was gerade in der Kunstwelt passiert, ist sehr polarisiert. Ich sehe das Hauptproblem darin, dass es keinen Raum für Dialog gibt.“ Bartanas Werke, darunter die aktuelle Installation „Light to the Nations“, die derzeit noch im Deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig zu sehen ist, zielen darauf ab, den:die Betrachter:in zu involvieren und jenen Dialog anzuregen: „Ich glaube daran, dass es in der Kunst Platz für Mehrdeutigkeit gibt, damit das Publikum einen Schritt auf ein Projekt zugehen und vollständig Teil davon werden kann. Es ist eine Einladung an Menschen, Fragen zu stellen (…) und über die Zeit, in der wir leben, nachzudenken.” Die Künstlerin plädiert für einen offenen Diskurs und die Akzeptanz von Komplexität: „Kunst sollte weiterhin Fragen aufwerfen und auf die wirklich kompliziertesten Stellen abzielen, tiefer und immer tiefer gehen. In der Politik gibt es an den meisten Stellen eine klare Agenda. Meine Agenda aber ist, die Dinge noch komplizierter zu machen, zu problematisieren – weil wir den Diskurs brauchen.“
Juristische Perspektiven auf aktuelle Spannungen
Der Jurist Tim Wihl beleuchtet zunächst die historische Entwicklung der Kunstfreiheit im Grundgesetz. Er betont die kategorische Unbeschränktheit dieses Grundrechts, das als direkte Reaktion auf die Kunstzensur und -verfolgung während des Nationalsozialismus in die Verfassung aufgenommen wurde. Wihl meldet daher juristisch fundierte Skepsis an, wenn es darum gehe, künstlerische Inhalte, beispielsweise durch Klauseln, politisch kontrollieren zu wollen. Er beobachte zudem eine Parallelentwicklung: „Zum einen gewinnen Antidiskriminierungsgesetze zunehmend an Bedeutung, zum anderen verändert sich der Kunstbegriff hin zu einem postautonomen Verständnis“. Kunst werde vermehrt als Aktivismus interpretiert und beziehe ihre Legitimation aus nicht-künstlerischen Bereichen wie Politik oder Identität. Diese Entwicklungen würden zu neuen Spannungsfeldern zwischen Kunstfreiheit und anderen gesellschaftlichen Ansprüchen führen. „Das Bundesverfassungsgericht musste in der Vergangenheit regelmäßig dazu urteilen, was Kunst darf und wo das ebenfalls grundrechtlich geschützte Persönlichkeitsrecht von Menschen der Kunst Grenzen zieht“, hatte auch Michael Grünberger in seiner Begrüßungsrede ausgeführt.
Tim Wihl warnt nun vor vorschnellen Einschränkungen der Kunstfreiheit, selbst in Fällen, wo Kunst möglicherweise diskriminierend wirken könnte. Er argumentiert, dass es äußerst schwierig sei, überzeugende Gründe zu finden, die die verfassungsrechtlich garantierte Kunstfreiheit überwiegen könnten. Stattdessen plädiert er für mehr Vertrauen in den künstlerischen Betrieb und eine gesellschaftliche Aushandlung kontroverser Themen.
Plädoyer für zivilgesellschaftliche Debatte statt staatlicher Eingriffe
Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda äußert sich zunächst kritisch gegenüber Klauseln, die versuchen, potenziell diskriminierende Inhalte im Vorfeld zu unterbinden. Er wirbt für einen offenen Diskurs, in dem mögliche Fälle von Diskriminierung durch Debatte und Auseinandersetzung geklärt werden sollten. „Wenn wir darauf beharren, dass wir eine Gesellschaft sind, die als freiheitliche und offene Gesellschaft in Vielfalt miteinander leben will, dann haben die Künste auch eine Möglichkeit innerhalb dieser Freiheitlichkeit und Offenheit uns Fragen zu stellen, uns mit Uneindeutigkeiten zu konfrontieren, uns zu sagen, was nicht aufgelöst ist und uns damit Bälle zurückzuspielen, die wir dann wieder in die Gesellschaft aufnehmen müssen“, führt der Senator aus. Zudem mahnt er eindringlich vor den Gefahren staatlicher Eingriffe in die Kunstfreiheit: „Wenn ich das mit den Klauseln ernst zu Ende denke, fängt der Verfassungsschutz an, irgendwann Künstler:innen systematisch zu überprüfen. In dem Moment, in dem er gesetzlich dazu verpflichtet wäre, wäre das seine Aufgabe.“ Auch Brosda betont stattdessen die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Debatten: „Das ist der Modus, wo ich als Gesellschaft schlauer werden kann, das ist der Modus, in dem sich Aufklärung bewegen kann.“ Er warnt vor der Vorstellung, den öffentlichen Raum einer Demokratie als „Safe Space“ zu organisieren, da dies relevante Fragen ausklammern würde. Abschließend unterstreicht der Kultursenator die Gefahr, dass gut gemeinte Schutzmaßnahmen, wie die staatliche Filterung von Kunst durch Klauseln, leicht von antidemokratischen Kräften missbraucht werden könnten: „Wenn wir das im besten Wissen und Gewissen demokratisch einführen, ist es danach ein Leichtes – wenn ich das Instrument einmal habe – nur noch das Ziel auszuwechseln.“ Stattdessen plädiert er für Reflexion, Aufklärung und Kompetenzsteigerung innerhalb der Kunstinstitutionen selbst.
„Hinter den Bildern“: Fortsetzung der Reihe im Frühjahr 2025
Am 5. März 2025 ist die Reihe „Hinter den Bildern. Gespräche zu Kunst, Recht und Gesellschaft“ zurück in der Bucerius Law School. Hier beschäftigen wir uns mit dem Thema des Kulturgutschutzes . Zu Gast ist unter anderem Barbara Plankensteiner, Direktorin des Museums am Rothenbaum für Kulturen und Künste der Welt.