Sechs Preisträger:innen, sechs Geschichten über den Kampf für Pressefreiheit und Investigativjournalismus unter schwierigsten Bedingungen: Gemeinsam mit der norwegischen Stiftung Fritt Ord vergeben wir die Free Media Awards 2024 an sechs Journalist:innen und Medien in Ost- und Mitteleuropa in Anerkennung ihrer herausragenden Arbeit und ihres persönlichen Mutes in Zeiten großer Unruhen.
Ausgezeichnet mit den Free Media Awards 2024 werden die georgische Journalistin Nastasia Arabuli, das journalistische Kollektiv Bihus.Info aus der Ukraine, der Journalist und Redakteur Szabolcs Panyi aus Ungarn und die aserbaidschanische Nachrichtenplattform Abzas Media. Außerdem gehen zwei Free Media Awards an derzeit inhaftierte Medienschaffende: Larysa Shchyrakova, freiberufliche Journalistin aus Belarus, und Mikhail Afanasiev aus Russland. Alle Gewinner:innen vereint ihr Wille im Kampf für Pressefreiheit und gegen Staatspropaganda, Korruption und Desinformation. Sie berichten über Menschenrechtsverletzungen, decken Diskreditierungskampagnen auf und setzen sich für Minderheiten ein – und riskieren dafür zum Teil ihre Rechte oder das eigene Leben.
Wenn alle unabhängigen Medien verstummen, ist die Demokratie zerstört.
„Unabhängige Medien in Georgien haben es derzeit sehr schwer“, sagt die georgische Preisträgerin Nastasia Arabuli. „Die ohnehin schon fragile Ausgangslage hat sich seit der Verabschiedung des sogenannten „russischen Gesetzes“ massiv verschlechtert. Wie in anderen Ländern auch, zielt das Gesetz darauf ab, die Zivilgesellschaft zu schwächen und speziell die wenigen unabhängigen Medien, die sich der staatlichen Kontrolle entziehen, zu stigmatisieren und zu sanktionieren. Wenn alle unabhängigen Stimmen und die Medienhäuser, die sie verbreiten, verstummen, dann ist die Demokratie in Georgien zerstört“, so Arabuli weiter.
Der Free-Media-Preisträger Szabolcs Panyi kommentiert die Situation in Ungarn ähnlich deutlich: „Als ich geboren wurde, war der Kommunismus noch allgegenwärtig, (…) Bürger:innen wurden bespitzelt, Journalismus in Propaganda verwandelt und Andersdenkende zum Schweigen gebracht. Ich hatte das Glück, Journalist zu werden, als diese Ära schon ein Kapitel der Vergangenheit war. Aber diese Schatten kommen schleichend zurück, und es ist unsere Pflicht, sie zu beleuchten, bevor sie wieder um sich greifen. “
Wir als ZEIT STIFTUNG BUCERIUS vergeben die Free Media Awards jährlich gemeinsam mit der norwegischen Stiftung Fritt Ord. Internationale Institutionen und Organisationen, die in Mittel- und Osteuropa tätig sind, sowie Osteuropa-Expert:innen nominieren dafür jedes Jahr unabhängige Journalist:innen und Medien; anschließend wählt eine internationale Jury die Preisträger:innen aus. Der Jury 2024 gehören an: Alice Bota, Osteuropa-Reporterin der ZEIT, Juri Durkot, ukrainischer Journalist und Übersetzer (Juri Durkot hat sich bei den Beratungen und Abstimmungen über die russischen Nominierten der Stimme enthalten), Martin Paulsen, Leiter des Fachbereichs Fremdsprachen an der Universität Bergen, und Silvia Stöber, Reporterin und Redakteurin der ARD-Tagesschau. Seit 2024 sind auch Attila Mong, ungarischer Investigativ-Journalist und Pulitzer-Preisträger, Europa-Repräsentant des Committee to Protect Journalists (CPJ), sowie die Russland-Expertin, Autorin und Director of Europe and Central Asia Department at the Norwegian Helsinki Committee, Inna Sangadzhieva, Teil der Jury.
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Nastasia Arabuli (Georgien)
Die georgische Journalistin Nastasia Arabuli erhält den Free Media Award für furchtlosen, unabhängigen Journalismus. Arabuli hat die Machtstrukturen in ihrem Heimatland wirksam infrage gestellt, indem sie u. a. im Programm des Tifliser Senders „Radio Free Europe/Radio Liberty“ Machtmissbrauch aufdeckte. Kürzlich wirkte die Journalistin zudem an einer umfassenden Untersuchung von sexuellem Missbrauch mehrerer junger Frauen in der georgisch-orthodoxen Kirche mit. Arabuli gilt außerdem als eine der entschiedensten Verfechter:innen der Rechte von LGBTQ+-Menschen in Georgien. Im Zusammenhang mit der Einführung des „Ausländische-Agenten-Gesetzes" und den Protesten dagegen im Frühjahr 2024 berichtete sie ausführlich über von Behörden ausgeübte Ungerechtigkeiten. Derzeit führt Arabuli im Vorfeld der für den 26. Oktober 2024 angesetzten Parlamentswahlen in Georgien eine Reihe von tiefgreifenden, hochkarätigen Interviews mit führenden Politiker:inen, Aktivist:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft. Sie gehört selbst zu den Journalist:innen, die den Angriffen von Politik und der Regierungspropaganda ausgesetzt waren.
Bihus.Info (Ukraine)
Das journalistische Kollektiv „Bihus.Info“ aus der Ukraine erhält den Free Media Award für seine tiefgründigen und facettenreichen Antikorruptionsrecherchen und die akribische Dokumentation von Kriegsverbrechen, nicht zuletzt unmittelbar von der Front. „Bihus.Info“ wurde 2013 von dem Investigativjournalisten Denys Bihus gegründet und hat sich seitdem zu einer Säule des unabhängigen Journalismus in der Ukraine entwickelt. Die Sendeformate werden auf der Website „Bihus.Info“ und dem gleichnamigen YouTube-Kanal veröffentlicht. Derzeit besteht die Redaktion aus Journalist:innen und Analyst:innen, die durch ihre Arbeit signifikanten Einfluss auf die nationale wie internationale Politiklandschaft ausüben. Ihre Berichterstattung hatte weitreichende Konsequenzen wie etwa Gerichtsverfahren gegen korrupte Beamt:innen und weitere politische Veränderungen, und hat das Bewusstsein für systemische Herausforderungen geschärft, mit denen sich die Ukraine derzeit konfrontiert sieht Im Januar 2024 wurde „Bihus.Info“ vom Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) angegriffen, mit dem Versuch, das Team der Journalist:innen und seine Arbeit zu diskreditieren. Als Reaktion auf diesen Vorfall leitete „Bihus.Info“ eine eigene Untersuchung des Angriffs ein, die sich als illegal erwies, und deckte interne Korruption im SBU auf.
Szabolcs Panyi (Ungarn)
Der ungarische Journalist und Redakteur Szabolcs Panyi erhält den Free Media Award für seinen herausragenden und unermüdlichen Investigativjournalismus. Szabolcs Panyi ist Journalist bei „Direkt36“, einer in Budapest ansässigen Nachrichtenredaktion. „Direkt36“ untersucht und recherchiert zu sensiblen Themen, die Behörden lieber im Dunkeln lassen. Außerdem ist Panyi Redakteur für Zentraleuropa bei „VSquare.org“, einer investigativen Plattform mit Sitz in Warschau, die unabhängige Journalist:innen aus Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarn zusammenbringt. Panyi berichtet über Korruption, nationale Sicherheit, Außenpolitik sowie den Einfluss Russlands und Chinas in Mittel- und Osteuropa. Bereits 2022 war Szabolcs Panyi für einen Bericht bei „Direkt36“ über die Infiltrierung der IT-Netzwerke des ungarischen Außenministeriums durch russische Geheimdienste verantwortlich, nachdem die Regierung versucht hatte, laufende russischen Hackerangriffe geheim zu halten. Der Skandal rückte vor einigen Monaten erneut in den Fokus des öffentlichen Interesses, als weitere neue Beweise die Berichte von Panyi bestätigten. Er selbst war auch Ziel von Überwachung und Bedrohung der ungarischen Regierung gegen Journalist:innen.
Abzas Media (Aserbaidschan)
Die unabhängige aserbaidschanische Nachrichtenplattform „Abzas Media“ erhält den Free Media Award für ihren entschlossenen und systematischen Investigativjournalismus. 2016 von einer Gruppe junger Aktivist:innen und Journalist:innen gegründet, gewann „Abzas Media“ schnell ein großes Publikum über Social Media. Heute ist das Medienunternehmen vor allem für seine Berichterstattung über staatliche Korruption bekannt. So untersuchte das Team beispielsweise die staatliche Auftragsvergabe im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau zerstörter Dörfer und Städte in der Region Karabach. „Abzas Media“ deckt außerdem wiederholt Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan auf und verfolgt klare journalistische Grundsätze, wenn es um die Berichterstattung über Gerichtsverfahren oder die Kämpfe von marginalisierten Gruppen und der politischen Opposition geht. Im Herbst 2023 verhafteten die aserbaidschanischen Behörden sechs hochkarätige Journalist:innen und Redakteur:innen aus der Redaktion von „Abzas Media“, die wegen angeblichen „Schmuggels" und „Verschwörung zur illegalen Einfuhr von Geld“ angeklagt wurden. Im August folgten sieben weitere Anklagen gegen die inhaftierten Teammitglieder, denen nun bis zu zwölf Jahre Haft drohen. Die aserbaidschanische Investigativjournalistin Leyla Mustafayeva wurde im Februar 2024 von dem inhaftierten Redaktionsteam zur Interims-Chefredakteurin von „Abzas Media“ ernannt. Daraufhin kündigten ein neues Untersuchungsteam aus im Exil lebenden Journalist:innen und „Abzas Media“ an, dass die Plattform ihre Aktivitäten von außerhalb Aserbaidschans fortsetzen wird.
Larysa Shchyrakova (Belarus) - Inhaftiert
Die Journalistin Larysa Shchyrakova erhält den Free Media Award für ihre mutige und unabhängige Arbeit in Belarus. Sie ist derzeit als politische Gefangene inhaftiert. Trotz der drohenden Verhaftung arbeitete Shchyrakova zuvor weiter als Journalistin. Im Herbst 2023 wurde sie in Belarus zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Shchyrakova wurde vorgeworfen, durch die Verbreitung von Desinformationen im Internet angeblich Belarus diskreditiert und Extremismus gefördert zu haben. In ihrer Arbeit als freiberufliche Journalistin rückte Larysa Shchyrakova vor allem die vergessenen Opfer der stalinistischen Unterdrückung ins Rampenlicht. Sie drehte den Dokumentarfilm „Die Ermordeten und Vergessenen", in dem sie die Geschichten der Angehörigen von unterdrückten Dissident:innen dokumentierte. Außerdem war Shchyrakova eine wichtige Stütze für freiberufliche Journalist:innen in der Region Homiel und setzte sich auf internationaler Ebene hartnäckig dafür ein, die Arbeit für freie Journalist:innen in Belarus zu legalisieren. Shchyrakova selbst war die erste freiberufliche Journalistin in Belarus, die mit einer Geldstrafe belegt wurde, weil sie angeblich „für ausländische Medien“ arbeitete. Zudem hatte die Journalistin auf mutige Weise über den Umgang Belarus‘ mit der Corona-Pandemie und die darauffolgenden Proteste berichtet.
Mikhail Afanasiev (Russland) - Inhaftiert
Der Journalist, Herausgeber und Verleger Mikhail Afanasiev erhält den Free Media Award für seine kompromisslose und furchtlose Berichterstattung aus Sibirien (Russland). Im Herbst 2023 wurde Mikhail Afanasiev von einem russischen Gericht zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt, weil er seine Position dazu genutzt haben soll, falsche Informationen über die russische Armee zu verbreiten. Tatsächlich hatte Afanasiev einen Bericht über Mitglieder der russischen Nationalgarde veröffentlicht, die sich weigerten in der Ukraine zu kämpfen. Für die Zeit nach Ablauf seiner Haftstrafe wurde ihm zudem ein Berufsverbot von zweieinhalb Jahren auferlegt. Afanasiev ist der erste Journalist in Russland, der im Rahmen der umstrittenen Änderung des Strafgesetzbuchs verurteilt wurde. Die Änderung wurde im März 2022 nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine abrupt eingeführt; Afasanievs Anwält:innen brachten den Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Mit „Novy Fokus“ hat sich Mikhail Afanasiev auf die Aufdeckung illegaler Aktivitäten von kriminellen Banden konzentriert und unter anderem Machtmissbrauch und Untätigkeit der Behörden aufgedeckt. Die Plattform ist derzeit aufgrund einer Aufforderung des „Russischen Föderalen Dienstes für die Überwachung von Kommunikation, Informationstechnologie und Massenmedien“ wegen „zahlreicher Verstöße" eingestellt. Für seine Arbeit als Reporter, der über Korruption und Menschenrechtsverletzungen berichtet, erhielt Afanasiev mehrfach Morddrohungen.